Die Sache mit dem Spazieren

Nennen Sie es Verschrobenheit, Trotz oder Durchhaltewillen, nennen Sie es meinetwegen Resilienz, wenn Sie unbedingt müssen; egal, jedenfalls: Seit ich nicht mehr gut zu Fuss unterwegs bin, habe ich die Liebe zum Spazierengehen entdeckt. Zum Abendspaziergang, um genau zu sein. Am Ende des Tages mache ich jeweils eine kurze Runde durch die Siedlung, in der ich seit ein paar Jahren lebe. Nicht jeden Abend, das nicht, aber doch immerhin fast.

Auf meiner Abendrunde  begegne ich für gewöhnlich keiner Menschenseele. Und das ist gut. Nicht, dass ich etwas gegen Menschen hätte, keineswegs. Im Gegenteil, ich mag Menschen, aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen. Ich bin aber dennoch froh, dass ich meine Runde in relativer Einsamkeit drehen kann. Denn Begegnungen jeder Art, insbesondere aber solche mit Menschen, die mit ihren Hunden unterwegs sind, würden meinen treuen Weggefährten mit Sicherheit verschrecken. Er würde sich in die Büsche schlagen und ich müsste meine Runde alleine drehen.

Dabei ist genau dieser Begleiter wohl der Hauptverantwortliche für meine neu erwachte Liebe zum Lustwandeln. Denn am Ende eines arbeitsreichen Tages, in dem sich mein Geist mit den üblichen Schreckensmeldungen in den hergebrachten und den fruchtlosen Debatten, Gehässigkeit und Idiosynkrasien in den sich sozial ausgebenden neuen Medien vollgesogen hat wie ein ungünstig liegender Putzlappen mit Dreckwasser; eines Tages, der mich motorisch mal mehr, mal weniger herausgefordert hat; eines Tages, an dem mir mein Immunsystem buchstäblich auf die Nerven gegangen ist, wie es das seit nunmehr zwei Jahrzehnten stetig und mit wachsendem Erfolg tut; am Ende eines solchen Tages also ist die Versuchung jeweils gross, einfach nur dazuliegen und meine Sinne mit irgendwelchen audiovisuellen Erzeugnissen unterschiedlicher Qualität zu betäuben.

Stattdessen gehe ich zur Garderobe, ziehe den Mantel und die Schuhe an, setze meinen Hut auf, greife zum Gehstock und rassle lauter als nötig mit den Hausschlüsseln. Immer wieder von Neuem gespannt, ob sich mein Gefährte diesmal wieder anschliessen möge. Und das tut er meistens. Er scharwenzelt ungeduldig um mich rum, bis ich die Wohnung endlich verlasse. Er begleitet mich auf meiner kleinen abendlichen Runde auf den menschenleeren Wegen der Siedlung. Und so zahlt es sich aus, dass ich mir trotz unsicherem Gang und der nervlich mitbedingten Erschöpfung diesen Ruck gegeben habe. Ja, es ist inzwischen zu einem Ritual geworden, das wir zwei gemeinsam zelebrieren.

Obwohl wir immer denselben Weg beschreiten, scheint er sich nie zu langweilen. Er ist immer neugierig auf alles, vor allem aber auf Dinge, die ich nicht wahrnehme. Das finde ich schön. Vielleicht färbt irgendwann die Faszination für das Unscheinbare auf mich ab.

Nennen Sie es Verschrobenheit, Identitätsstörung oder meinetwegen Selbstbestimmung; egal: Jedenfalls hält sich mein Kater offensichtlich für einen Hund.

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