Die Sache mit der schönen Leonie

In einem Blogtext spekuliert ein Schweizer Online-Autor über das Innenleben von Selbstmördern und hält die, die ihrem Leben ein Ende setzen, indem sie sich vor einen Zug stürzen, für „krasse Egoisten“. Eine Replik.

Mitunter kommt es vor, dass ein Text mich völlig ratlos zurücklässt. Der Blogtext „Der egoistische Suizid“ ist ein solcher Text. Darin thematisiert der Autor die so genannten „Personenunfälle“, die leider allzu häufig den Zugverkehr stören. Bei einem Personenunfall wird eine Person von einem Zug überfahren. Manchmal handelt es sich tatsächlich um einen Unfall, manchmal um einen Suizid. Das geht aus den Meldungen nicht hervor, und das ist gut so. Man soll bei der Thematisierung von Suiziden durch die Medien sehr zurückhaltend sein, weil die Berichterstattung Nachahmer animieren könnte. Der Autor erwähnten Blogs unterlässt es denn auch nicht, auf diesen Umstand aufmerksam zu machen.

Hier stellt sich für mich freilich schon die erste Frage: Warum greift er dieses Thema im gut besuchten Blog auf? Dafür muss es triftige Gründe geben, denn schliesslich gibt es ihm zu denken, wenn derartige Suizide zu Nachahmungstaten führen. So zumindest äussert er sich im Lauf der Diskussion über seinen Blogtext auf Twitter:

Kurze Meldung: Heute Abend schon wieder Suizid auf der Strecke. Gibt euch das nicht zu denken? #nachahmer

Was also bewegt ihn dazu, seinen Blogtext zu schreiben? Wir wissen es nicht. Und es erschliesst sich auch nach mehrmaliger Lektüre nicht. Er schreibt zwar durchaus auch richtige Dinge:

 Wenn man etwas genauer hinschaut, triffts nicht nur den Selbstmörder, es gibt da zum Beispiel noch die Familie. Und eben den Lokführer. Vielleicht ein Familienvater, der dann wochen- oder monatelang nicht mehr schlafen kann, Psychopharmaka nehmen muss und unter einem Trauma leidet. Bei den Zeugen einer solchen Tat dasselbe.

Dem ist nichts entgegenzuhalten. Bloss: Tut das jemand? Ich habe schon unzählige Diskussionen zu dem Thema erlebt. Praktisch jedes Mal, wenn eine Arbeitskollegin oder ein Arbeitskollege wegen eines solchen Personenunfalls erhebliche Verspätungen erdulden muss, wird das in der Kaffeepause thematisiert. Der Grundtenor ist einhellig: Das muss für den Lokführer und die Rettungskräfte so wie allfällige weitere Zeugen der blanke Horror sein. Das Mitgefühl ist praktisch immer auf deren Seite. Und das ist auch richtig so.

Warum aber tut der Autor des Blogtextes so, als würde er einen gänzlich neuen, bislang unbeachteten Aspekt in die Diskussion einführen? So dass das Verfassen besagten Blogtextes gleichsam zwingend ist? Zumal er sich selber dagegen ausspricht, solchen Vorkommnissen zu viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen?

Ich weiss es nicht. Ich frage ihn via Twitter – nicht, um ihn anzugreifen, sondern weil ich es wirklich wissen will. Und ich erhalte von ihm auch eine Antwort:

Ganz einfach: Eine kleine Botschaft an Leute, die sich das Leben nehmen wollen.

Und plötzlich muss ich an Leonie* denken. Eine ehemalige Mitstudentin von mir. Eine aussergewöhnliche Erscheinung. Sehr attraktiv, sehr klug, sehr liebenswürdig. Nach dem Studium verliere ich sie aus den Augen. Nur einmal, etwa ein Jahr nach dem Abschluss, sehe ich sie wieder, zufällig. Sie ist inzwischen glücklich liiert, voller Zukunftspläne, sowohl im Privaten wie auch im Beruflichen. Das Nächste, was ich über sie erfahre – es sind inzwischen 10 Jahre vergangen: Die schöne Leonie brachte zwei Kinder zur Welt. Nach der zweiten Entbindung fiel sie in eine postnatale (bzw. korrekt: postpartale) Depression. Sie suchte Hilfe. Sie war in der Klinik. Es schien ihr besser zu gehen. Sie warf sich vor einen fahrenden Zug.

Es ist nichts Romantisches am Tod von Leonie. Nichts Schönes. Sie hat sich zerstört. Sie hat zwei Kleinkinder hinterlassen. Die Welt lag ihr vor Füssen, sie hätte ihrem Wesen nach viel erreichen können. Sie konnte es nicht.

Was schreibt der Autor des Blogtextes?

Wer sich vor einen Zug wirft, sucht nicht nur den Tod. Er versucht der Gesellschaft zuzuschreien: «Das habt ihr nun davon». Es ist eine Art Amoklauf, bei dem oberflächlich gesehen nur der Täter verletzt wird. Und solche Amokläufe gieren nach Aufmerksamkeit, selbst im Tod. Darum gibts auch die Nachahmer.

Ich kannte Leonie. Sie war ein ausgesprochen zurückhaltender Mensch. Sie war nicht verschlossen, nicht im geringsten. Aber sie war kein Mensch, der die Aufmerksamkeit der anderen suchte. (Das hätte sie schon darum nicht tun müssen, weil sie ungewöhnlich attraktiv war, was ihr durchaus bewusst war. Sie gab nichts auf diese Tatsache. Aber die Aufmerksamkeit war ihr sicher). Sie war stets sehr rational, sehr tüchtig, gesellig. Niemand hätte je gedacht, dass sie dereinst ein solches Schicksal ereilen sollte.

Leonie hat – nach den Massstäben der Mehrheit von uns – eine unglaublich egoistische Tat verübt. Sie hat ihr Leben auf grausame Art zerstört, sie hat vielen Menschen – nicht zuletzt ihren Kinder – Schreckliches zugemutet, Dinge, die wohl nie wieder zurechtgerückt werden können.

War sie deswegen eine Amokläuferin? Gierte sie mit ihrer Tat nach Aufmerksamkeit? Wollte sie der Welt, ihrem Partner, ihren Kindern, Freunden, Verwandten, dem Lokführer, den Zeugen, den Rettungskräften, mir und allen, die sie gekannt und gemocht hatten, mit ihrer Tat eins auswischen?

Oder war sie nicht vielmehr in eine Sphäre gelangt, der all diese Dinge bedeutungslos erscheinen liess? In der so etwas wie rationales Abwägen gar nicht mehr existiert? In der es nur noch darum geht, es loszuwerden, sofort, endgültig, es zu zerstören, dass nichts mehr davon übrigbleibt: Dieses unerträgliche Leiden?

Hätte sie ihre Tat unterlassen oder eine andere Methode gewählt, hätte sie nur die Gelegenheit gehabt, den Text „Der egoistische Suizid“ gelesen, diese „kleine Botschaft an Leute, die sich das Leben nehmen wollen“?

Als ich gestern den Blogtext las, war ich zuerst wütend. Nach einer Weile aber nur noch traurig. Traurig darüber, dass sich manche Leute – beileibe nicht nur der Autor des Textes – anmassen, den Stab über solche Menschen zu brechen.

Ja, mein Mitgefühl gehört den Lokführern, den Rettungskräften, den Angehörigen, den Zeugen. Aber wer bin ich, um zu behaupten, dass ich weiss, was den Selbstmörder oder die Selbstmörderin dazu getrieben hat, sich so zu verhalten? Wer bin ich, um über sie zu richten?

Im Blogtext steht:

Nun kam die Diskussion auf, wem das Mitgefühl gehört.

Nein, Réda, diese Diskussion kam nicht auf. Du hast versucht, diese Diskussion, die es gar nicht gibt, in deinem Blog zur Entscheidung zu bringen.

Und ich frage mich immer noch: Wozu?

* Name natürlich geändert.

 

Share Button
Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Uncategorized. Fügen Sie den permalink zu Ihren Favoriten hinzu.

19 Responses to Die Sache mit der schönen Leonie

  1. Pingback: Depression, Suizid und Präventation | das Leben mit Borderline

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.